Zuckerbrot und Teufelsgeige (4 von 5 Leselokomotiven)

Derzeit sprechen alle über Benjamin Stuckrad-Barre, also sprechen wir mal über David Garrett. Dessen Autobiographie »Wenn ihr wüsstet …« ist bereits vor einem Jahr erschienen, aber auch heute einer Besprechung wert. Eine gewisse Verbindung zu Stuckrad-Barre lässt sich im Übrigen durchaus herstellen. Ob und warum er selbst eigentlich »noch wach« ist, dürfte Garrett sich selbst nämlich mehr als einmal gefragt haben, wenn er schon als Kind wie ein Besessener üben oder mit dem Vater an weit entfernte Orte reisen musste, um qualifizierten Unterricht zu erhalten. Oder später, wenn er jeden Abend auf einer anderen Bühne in einer anderen Stadt stand, um zu performen.

Die Violine ist ein wundervolles und zugleich unendlich schwieriges Instrument. Das weiß jeder, der es einmal probiert und dann wieder verworfen hat. Ich eingeschlossen. Nach mehreren Jahren ödesten Herumfidelns bat mich meine Mutter, doch bitte lieber wieder Klavier zu spielen oder ihretwegen gar zu singen (was bei meinem Organ etwas heißen will).

David Garrett, der eigentlich David Bongartz heißt, ist der entscheidende Sprung vom nervenaufreibenden Herumsägen zum Entlocken süßester Geigentöne zweifelsohne geglückt. Er besaß Talent, Konsequenz und Durchhaltefähigkeit, bekam dazu die nötige frühe Förderung seines Vaters, eines Gegenhändlers. Glaubt man seiner Erzählung, verliefen Kindheit und Jugend in schulischem Außenseitertum und überwiegend hart schuftenderweise. Denn von nichts kommt nichts. Was in Italien so schön »Sprezzatura« genannt wird (die Kunst, etwas Schwieriges einfach aussehen zu lassen), beherrscht Garrett aus dem ff, ebenso wie seine Klassikkollegen, wie Balletttänzer oder eine Helene Fischer. Allein das verdient Respekt.

Das Buch folgt in munterem Plauderton, sehr selbst bewusst und erfreulicherweise mit einer Prise Selbstironie gewürzt Garretts bisherigen Stationen. Kindheit, erste Lehrer und Konzertauftritte, Studium in New York, Entstehung seiner Cross-Over-Kunst, Tourneen. Beschrieben werden der Kampf um die richtige Interpretation, mit eiserner Disziplin getaktete Tage, die fast unmögliche Balance zwischen Berufs- und Privatleben, erste kleinere, dann immer größere Erfolge durch das Glück des Tüchtigen. Besonders eindrücklich der Abschnitt, in dem ausschließlich die Namen der Städte aneinandergereiht werden, in denen Garrett in einem Jahr aufgetreten ist. Das erweckt nicht nur den Eindruck moderner Poesie, sondern ruft in der Leserin die Verwirrtheit und Ermüdung wach, die der Künstler über weite Strecken seines Lebens verspürt haben muss. Und es macht verständlich, warum das Thema Partnerschaft sich angesichts eines solchen Programms zumindest kompliziert gestaltet.

In jedem Fall ist David Garrett ein moderner Violinist mit modernem Buchkonzept: Jedem Kapitel ist ein QR-Code beigegeben, über den inhaltlich passende Bilder oder Videos abgerufen werden können. Ich gestehe, davon sehr umfassend Gebrauch gemacht zu haben – inspirierend und aufschlussreich. Häufig kritisiert wurde, man erfahre in dem Buch zu wenig über den Menschen David Garrett, zu viel dagegen über Geigen und Musik(-geschichte). Gut, wären diese Themen für mich nicht von Belang, hätte ich kaum zur Autobiographie eines Violinvirtuosen gegriffen. Mein Interesse galt tatsächlich weniger einem skandalumwitterten Privatleben als der Frage, wie sich das »Wunderkind« zum Klassik-Pop-Superstar von heute entwickeln konnte. Was das menschlich wie alltagsorganisatorisch bedeutet. Und wie man das alles aushält. Tja, wenn ich das wüsste …

Versteht man das Buch zu lesen (also die Passagen mit einem Augenzwinkern zu nehmen, die recht selbstverliebt daherkommen, ebenso diejenigen, die vermutlich etwas romantisiert und mit poetischer Freiheit gestaltet sind), bietet es einen spannenden und durchaus authentischen Blick hinter die Kulissen einer Kunstfigur, die sich selbst mit viel Blut, Schweiß und Tränen erschaffenen hat. Und – das muss man neidlos erkennen – also solche gekonnt am Leben erhält. Paganini starb vereinsamt mit 58 Jahren. David Garrett wünsche ich ein längeres und vor allem glücklicheres Leben.

Buchtipp von Astrida Wallat