Der brutale Atem des Meeres (5 von 5 Leselokomotiven)

Als Eleonora Greco im Jahr 1960 auf der kleinen Insel Katria westlich von Sizilien geboren wird, löst dies eine Welle der Enttäuschung, wenn nichts des Entsetzens aus:  Schon in der zweiten Generation hat der Raìs keinen männlichen Erben mehr – damit, so die Legende, ist die Existenz des Fischerdorfes bedroht. Denn die Tradition verlangt, dass das Oberhaupt der jährlichen Mattanza (des traditionellen Thunfischsfangs), stets aus der selben Familie stammt. Solange dies der Fall ist, wird die Insel bestehen. Entgegen aller Zweifel der Dorfgemeinschaft bestimmt Raìs Andrea Enkelin Nora zu seiner Nachfolgerin. Und das Mädchen lernt, was es lernen muss: Netze zu flicken, Strömungen und Wetterphänomene zu deuten, sich auf den uralten Instinkt ihrer Familie zu verlassen. Schließlich bestimmt allein der Raìs, wann die Mattanza beginnt, er dirigiert das Geschehen, ist verantwortlich für dessen Ausgang. So oder so ist es kein leichtes Los, das der jungen Frau zugefallen ist. Unsicherheit wie Respekt prägen ihr Heranwachsen: In ihrer Ursprungsfamilie wird sie zur Fremden, Gleichaltrige meiden sie, die Dorfgemeinschaft wacht über sie in der distanzierten Sorge, die ohnehin fragile Kette der Tradition könne endgültig zerbrechen und damit die Welt, wie sie sie kennt, dem Untergang geweiht sein.

Nora erfüllt ihre Aufgabe zunächst besser als erwartet, lange Jahre bringt sie einen reichen Fang in den Hafen, sichert damit die Existenzgrundlage Katrias. Doch schleichend hält die Moderne Einzug und mit ihr das Unheil in Form von Umweltverschmutzung, Klimaveränderungen, japanischen Hochseeschiffen, die den sehnlich erwarteten Thunfischschwarm schnell und rationalisiert abfangen, ehe er die Küste erreicht. Der Tourismus scheint das dräuende Unheil abzufedern, als das Meer in den neunziger Jahren neue Leiden an Land spült: Boote mit Halbtoten aus Afrika, manchmal nur noch deren Leichen. Die Insel wird von der Regierung zum Durchgangslager für Flüchtlinge erklärt, mit den Problemen bleiben die Bewohner alleine. Der Zeitenwandel fegt über Katria hinweg wie gnadenlose Böen eines Orkans, am Ende bleibt Gattopardis berühmtes Diktum uneingelöst, denn nichts mehr, wie es einmal war …

Fabianos Buch erschafft und entfaltet einen literarischen Ort. Katria ist einer der alten Namen der Insel Favignana, von jeher bekannt für die Mattanza und die anschließende Thunfischverarbeitung. Noch heute kann man dort die ehemalige Fabrik der Familie Florio, deren Geschäftssinn ganz Italien geprägt hat, besichtigen. Im Roman wird diese der Adelsfamilie Filangeri zugeschrieben, das Schicksal als erste Anlaufstelle und menschenunwürdiges Übergangslager für Flüchtlinge aus dem Nordafrikanischen Raum wiederum scheint von Lampedusa geborgt. Die Autorin verdichtet also verschiedene historische Wahrheiten zu dem literarischen Zweck, eine symbolische Geschichte über Tradition und Moderne zu erzählen.

Covertechnisch, aber auch auch inhaltlich reiht sich der Titel ein in eine Reihe erfolgreicher Werke wie Micheala Murgias »Accabadora«  oder Donatella Di Pietrantonios »Arminuta«. Sie alle erzählen von einem archaischen, teils patriarchalisch geprägten Mikrokosmos, von tief verwurzelten, grausam anmutenden Ritualen oder Traditionen, die eine verschworene Gemeinschaft außerhalb städtischer Strukturen zusammenschweißen. Bei Fabiano wird die heute so gut wie verschwundene Mattanza weder verklärt noch verurteilt, sondern als aus Sicht der Bewohner natürlicher Ablauf im Zusammenspiel zwischen Mensch und Meer, als unvermeidlicher Teil der Nahrungskette beschrieben. Ebenso prägen den Text Elemente des magischen Realismus: Don Tanino di Tonni etwa, Seher und Mahner, stirbt mit 122 Jahren, an dem Tag, an dem der Steinboden der Thunfischfabrik nicht mehr nass vom Wasser des Meeres und dem Blut der Tiere ist. Das hat er prophezeit, so tritt es ein. Am Ende bleibt Nora, die alles gegeben, ihr Leben komplett den Forderungen der Gemeinschaft unterworfen hat, keine andere Rolle mehr als die der Führerin durch das Museum der Vergangenheit, zu dem die Fabrik letztlich geworden ist.

Ein kurzer, prägnant erzählter Roman von poetischer Kraft, der die Tragik einer dem Untergang geweihten Epoche als breites Panorama entwickelt, dem man sich kaum entziehen kann. Und der gegenwärtige Problematiken geschickt ins Spiel bringt. Unwillkürlich fragt man sich am Ende nämlich durchaus: Was eigentlich ist brutaler? Das Ritual der Mattanza oder der Umgang der sogenannten zivilisierten Welt mit geflüchteten Menschen?

Buchtipp von Astrida Wallat