Das andere Leben … (4 von 5 Leselokomotiven)

Auf den ersten Blick hat Maria Cristina Palma alles, was man sich wünschen kann: Sie ist reich, privilegiert, gilt »als schönste Frau der Welt« (ein Titel, der mühelos erkämpft, aber schwer zu halten ist). Dass es sich bei ihrem Mann um den italienischen Ministerpräsidenten handelt, ist da beinahe schon eine nette Beigabe. Die allerdings zum Verhängnis zu werden droht, als sich die Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes visualisiert – und zwar in Form von Nicola Sarti und einem Home-Porno-Video, das ihn gemeinsam mit Maria Cristina beim Sex zeigt. Eine Jugendsünde, die, sollte sie publik werden, peinlich vernichtende Kreise zöge.

Was tut die schönste Frau der Welt? Sie dreht durch. Will sich, ihre Ehe, ihre Tochter schützen, und weiß nicht, wie. Sie startet ein Kopfkino, in dem ihre heikel-durchwachsene Vergangenheit eine ebenso schwerwiegende Rolle spielt, wie die von Oberflächlichkeiten, Eitelkeiten und Anspannung geprägte Gegenwart. Ein tückisches Spinnennetz spannt sich auf: Je mehr sich die in ihren eignen Visionen Gefangene gegen dieselben zur Wehr setzt, umso tiefer rutscht sie in haltlose Abgründe. Bis der Fantasie des Autors eine Volte entspringt, deretwegen allein sich dieser Roman zu lesen lohnt …

Nicolò Ammaniti hat mir in meinem Leseleben (zuletzt die inzwischen für Netflix verfilmte Dystopie »Anna«) wie vor dem Fernseher (grandios: die Miniserie »Ein Wunder«) bereits viel Freude bereitet. Als Meister der gesellschaftskritischen Unterhaltung versteht er es, psychologisch perfekt ausgeleuchtete, zugleich immer ein wenig skurrile Figuren zu schaffen, die gewissermaßen ständig an die Wände ihres selbstgezirkelten Mikrokosmos laufen. Vieles will hart erkämpft sein, manches ist unerreichbar und am Ende bleibt einiges offen, mitunter auch der Mund des Lesers.

Wer noch keinen Ammaniti kennt, sollte sich schleunigst einen besorgen. Gerne bei uns in der Bücherei!

Buchtipp von Astrida Wallat