Diesseits oder drüben … (4 von 5 Leselokomotiven)

Ans Meer fahren wir meist um der Erholung willen – um Freizeit zu genießen, salzige Luft zu atmen, wissend: Wir haben Urlaub oder wenigstens eine Auszeit. Doch das ist nur eine Seite der wässrigen Medaille. »Oben Lust, im Busen Tücke …«, dichtete schon Heinrich Heine über den Rhein. Das Meer kennt ähnliche Grausamkeiten, viele hat es das Leben gekostet, zuletzt besonders Flüchtlingen auf der Suche nach einer besseren Existenz. Vieles hat es zugleich selbst erdulden müssen: Umweltverschmutzung und Klimaerwärmung etwa machen sich in seinem Mikrokosmos besonders bemerkbar.

Und in den Tiefen? Treffen sich, glaubt man Root Leeb, der Erste, der Zweite und die Dritte. Zunächst namenlose Wasserleichen, gestrandet, nein, vielmehr tief gesunken, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Angekommen an einem Ort zwischen Diesseits und Drüben, voller menschlicher Spuren und dennoch nicht mehr von dieser Welt, bevölkert von Wesen, nicht lebendig, nicht tot. Ein Raum, der ganz eigenen Gesetzen gehorcht. So sind die Gedanken hier nicht mehr frei, sondern allen Anwesenden vernehmlich. Doch was heißt schon anwesend? Drei Schatten ihrer selbst sind es, die über eine Art subaquamarine Aspholdeloswiese geistern: Ein afrikanischer Fischer, dessen Flüchtlingsboot sank, eine gefolterte Menschenrechtlerin aus dem selben Kontinent, die sich aus Verzweiflung im Meer das Leben nahm, und ein überheblicher deutscher Rechtsanwalt, der betrunken von einem Kreuzfahrtschiff fiel. In ihren irdischen Existenzen wären die drei einander wohl nie begegnet, oder nur mit einer großen Fallhöhe. Als Geister sind sie alle gleich und müssen miteinander auskommen. Am schwersten fällt dies dem Anwalt, vielleicht, weil er nach menschlichem Ermessen am meisten zu verlieren hatte. Er  möchte unbedingt gerettet werden, schließlich hat er ein Recht auf das Diesseits. Oder nicht? Ab und an zieht Poseidon mit seinen Töchtern, den Nereiden, vorbei, mythologisch und zeitlos sich wundernd über das seltsame Treiben der menschlichen Wesen, manchmal erschüttert ein Bombentest die unterirdischen Weiten oder ein Kreuzfahrtschiff zieht seine Bahnen. Ansonsten: Gedanken, Philosophisches und Stille. Was kommt am Ende? kann es überhaupt eines geben in der Endlosigkeit, in einem Raum ohne Zeit? »Du siehst, es wird interessant, die Möglichkeiten sind unendlich.« (S.146)

Den Meeresgrund als literarischen Ort hat man vorher nicht eben oft erlebt, das Zusammenziehen einer bekannten, durch Poseidon und seine Töchter vertretenen Mythologie mit einer neuen, heutigen, in der drei Ertrunkene zu kongenialen Wasserwesen werden, ist ein gelungener Kunstgriff. Der Text kreist, reflektiert, wobei er sich aktuellen gesellschaftlichen Problematiken widmet ohne zu moralisieren. Root Leebs schmales Buch entzieht sich einer klaren Gattungsbeschreibung, der Begriff »philosophische Novelle« trifft es vielleicht am ehesten. Vermutlich sind solcherlei Begrifflichkeiten angesichts der Lektüre aber ohnehin bedeutungslos, Hauptsache das Gelesene fasziniert. Und das tut es.

Buchtipp von Astrida Wallat