Die Dinge des Lebens (4 von 5 Leselokomotiven)

Die sardische Schriftstellerin Michela Murgia war in ihrer Heimat Italien als Kämpferin bekannt, bewundert und bisweilen verhasst. Unermüdlich setzte sie sich für ein neues Verständnis von Frau und Familie ein, kämpfte für ihre queere, selbstgewählte Lebensgemeinschaft, gegen die Auswüchse der Regierung Georgia Melonis und zuletzt tapfer gegen ein schweres Krebsleiden, dem sie im August 2023 mit nur 51 Jahren erlag. Hierzulande hatte die Autorin besonders durch ihren Roman »Accabadora« Bekanntheit erlangt, der die historisch allerdings nicht bezeugte sardische Tradition einer Art Sterbehelferin für Alte und Kranke thematisiert. »Drei Schalen« ist das letzte gewissermaßen resümierende Werk einer Frau in den letzten Monaten ihres Lebens.

Als Erzählkranz mal enger, mal loser ineinander verwobener Geschichten beschreibt der Text einen Kreis, der sich am Ende mit dem vorweggenommenen Tod der Protagonistin schließt. Die – das hat Murgia in einem Interview gegenüber dem Corriere della Sera selbst bestätigt – in dem Fall durchaus mit der Autorin selbst gleichzusetzen ist. Der Untertitel »Rituale für ein Jahr der Krise« ist kaum zufällig gewählt, denn in allen Erzählungen geht es um Schlaglichter auf Wendepunkte oder Grenzerfahrungen. Da ist die Frau, die eine tödliche Diagnose erhält, eine andere, die verlassen wird und fortan nichts mehr essen kann, und deren männlicher Widerpart, dem es erst gelingt, sich von ihr zu lösen, als er seinen inneren Kompass umprogrammiert. Da sind die Jugendlichen mit glücklicher Kindheit, die dennoch gewaltbereit bestialisch eine Ratte töten und die gelangweilte Ehefrau, die sich mit der lebensgroßen Pappfigur eines koreanischen Teenie-Idols tröstet. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie etwas Fremdes überfällt, zu dem sie sich erst in Beziehung setzen müssen.

Eine manchmal widerborstige, schwer verdauliche, zugleich heilsame Lektüre, die nachhallt. Getragen von einer Erzählstimme mit ganz eigenem Timbre, voller Kraft, Esprit und – ja – Lebensfreude selbst angesichts der größten Katastrophe des eigenen Todes, eine Stimme auch, die sich bis zuletzt voller Energie in kritische politische Debatten mischte und Konflikten nie aus dem Weg ging. Eine, die mit Sicherheit die viel zu früh verstummt ist.

Buchtipp von Astrida Wallat