»Alle Menschen werden Brüder?!« (5 von 5 Leselokomotiven)

Das Versprechen aus Schillers »Ode an die Freude«, deren Vertonung durch Beethoven zur Europa-Hymne wurde, steht in Robert Menasses zweitem EU-Roman »Die Erweiterung« als großes Fragezeichen im Raum. 

Brüderlich zusammenfinden will hier nämlich nichts so recht, im Gegenteil. Adam und Mateusz etwa, im polnischen Untergrund noch blutsverschworen, stehen sich nun an zwei verschiedenen Enden des europäischen Machtapparats gegenüber. Einer als loyaler Beamter der Osterweiterungskommission in Brüssel, der andere als nach rechts abdriftender polnischer Regierungschef, der die geforderten Justizreformen nicht umsetzen mag und überhaupt wenig auf europäische Ideale gibt. Das regeluntreue Polen jedoch »ist drin«, während das akribisch ums Erreichen der geforderten Ziele bemühte Albanien aufgrund Frankreichs Veto ewiger Kandidat bleibt. Weltpolitische Ungerechtigkeit, wenn man so will.

In diesem vereinten Europa läuft nichts so, wie es einmal erhofft und ersonnen war. Zum schillernden Dingsymbol des Kampfs um Sein und Schein, um Deutungshoheit und Interessen, wird schließlich der in einem Wiener Museum befindliche, allerdings wohl nicht authentische Helm des albanischen Staatshelden Skanderbeg. Die Idee, ihn von Österreich zurückzufordern und den albanischen Ministerpräsidenten sinnbildlich damit zu krönen, entgleist genialisch, denn sie ruft die Opposition auf den Plan, die sich nun ihrerseits dieser potenten Reliquie bemächtigen möchte. Der Helm verschwindet, taucht an unverhoffter Stelle wieder auf, es folgt: Eine verzweifelte, ins Irrsinnige laufende Schnitzeljagd verschiedener Institutionen, internationale Verdächtigungen, diplomatische Krisen und die Erkenntnis, dass Fair Play in der Welt der Staatskunst im Grunde nichts zu suchen hat. Am Ende münden persönliche in politische Enttäuschungen und umgekehrt, es ist viel gekämpft, dabei wenig erreicht: Die auf dem Kreuzfahrtschiff MS Skanderbeg angesetzten Verhandlungen zwischen Albanien und der EU gipfeln im Ausbruch eines Virus, den man wörtlich wie metaphorisch verstehen muss, indem sich im selben Zug eine in Europa sehr präsente Situation aufgreift. Wie den Flüchtlingen, die durchs Mittelmeer kreuzen, dort den Tod finden, nirgendwo anlanden dürfen, geht es nun dem hochrangigen Staatspersonal samt seinen Ideen von Freiheit, Frieden und Solidarität. Das ist böse, verzweifelt – und zum Teil wohl leider bitter realistisch.

Die verschlungene Handlung greift in zahlreichen Binnenerzählungen weit aus, gibt einem breiten Personal intensiv gezeichneter Figuren Raum und bleibt doch klar in der Aussage. Wie schon in »Die Hauptstadt« wird der ins Kafkaeske langende europäische Machtapparat (an den »Prozess« fühlt man sich tatsächlich nicht selten erinnert) humoresk entlarvend beschrieben. Zwischen der Weltpolitik tummelt sich die Kleinheit der Menschen mit ihren alltäglichen Problemen: Gescheiterte Ehen, Todesfälle, verblasste Ideale, zerrüttete Lebenskonzepte. Und: Letztlich ist alles mit allem verbunden. »Die Erweiterung« steht ihrem 2017 mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichneten und in viele Sprachen übersetzten Vorgänger in nichts nach: Auch hier handelt es sich um einen detailliert recherchierten, klug durchdachten Roman, auf den man sich freilich einlassen muss, der einem dies durch Spannung, Erzählfreude und Humor aber zugleich einfach macht. Denkwürdiges gibt es natürlich ebenfalls, dazu ein paar Kalauer. Und große Ernsthaftigkeit:

Künstler und »Kreativdirektor« Fate Vasa: »Die Dichter sind die Einzigen, die es noch wagen ›ich weiß nicht‹ zu sagen.«

Zyniker Mateuzs: »Alle Diktaturen sind ähnlich. Aber unterdrückt fühlt sich jeder auf eigene Art.«

Juristin Baia Munique: »Die Welt ist älter als ein paar Jahrzehnte. Wahre Zeitgenossenschaft hat die Tiefe von Jahrhunderten.«

Echte Menasse-Sätze, die aus dem Kontext des Romans nachhallen. Nur einem derart erfahrenen Erzähler kann es überhaupt gelingen, so viele narrative Fäden konsequent zu verfolgen und zusammenzuführen. Fate Vasa, Poeta Vates und Stabsmitglied des albanischen Ministerpräsidenten, seine Kollegin, die Juristin Baia Munique, der österreichische EU-Beamte Karl Auer, Mateusz, Adam und viele weitere – sie alle haben reflektierte (europäische) Biographien mit je eigenen Verwerfungen. Das schafft Nähe, zeigt zugleich aber auch, dass das Ganze eben doch mehr ist als seine Teile. Und dass es keine einfachen Lösungen gibt. Nicht einmal für Literaturtipps, die ebenfalls nur einen individuellen Lektüreeindruck abbilden können. Immerhin für dieses Problem existiert  eine recht simple Lösung: Selber lesen!

Buchtipp von Astrida Wallat